Dieser Artikel ist erschienen in der „Gai-Dao“ Ausgabe 81, September 2017, einer monatlichen Zeitschrift der Förderation Deutschsprachiger Anarchist*Innen.
Als wir uns als Gruppe neu gegründet haben, war uns schon immer bewusst gewesen, dass wir eine geschlossene, militant agierende, anarcha-feministische Gruppe sein wollen.
Dass wir mit dieser Entscheidung einen relativ selten begangenen und vielleicht auch einen nicht einfachen Weg einschreiten würden, wurde uns in den letzten Monaten immer klarer.
In Deutschland ist innerhalb der anarchistischen Bewegung die Strömung des „Anarcho-Pazifismus“ mit ihren Vertreter*innen, wie die der bekannten „Graswurzelrevolution“, stark ausgeprägt: „Bis heute ist sie (…) das langlebigste Sprachrohr des deutschen Nachkriegsanarchismus“. Dieser pazifistische Gedanke ist aber nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal der anarchistischen Szene, sondern auch auf einen Teil der „linken Bewegung“ im deutschsprachigen Raum übertragbar: Militanz ist verpönt und wird als kontraproduktiv angesehen. Während in anderen Regionen, wie in Griechenland, Spanien oder Frankreich die linke Szene Militanz befürwortet und nutzt, sind militante Aktionsformen hier in Deutschland fast in Vergessenheit geraten.
Seit ein paar Jahren dagegen scheint es erneut ein Aufleben militanter Aktionsformen zu geben. Mit den Protesten und Ausschreitungen seit Blockupy 2015, der Verteidigung der Rigaer94 in Berlin und während der „NO-G20“ Aktionstage in Hamburg sind die hier beschriebenen Folgen deutlich zu erkennen: Militanz wird als politische Aktionsform angewandt und es hagelt Entsolidarisierung, Distanzierung und Vorwürfe, dass „Gewalt kein politisch legitimes Mittel sei“ und diejenigen, die Gewalt als Protestform anwenden „unpolitische Akteur*innen“ sind. So werden auch links des gewohnten „Mimimi“ der Bratwurst-essen-gegen-Rechts-Fraktion Stimmen immer lauter, für die brennende Autos ein größeres Problem darzustellen scheinen als die tagtägliche Gewalt des kapitalistisch-etatistisch-patriarchalen Normalzustandes.
Solidarität und Anarchie
Auch wir als Gruppe bekamen Kommentare wie diese zu spüren, welche uns vorwarfen, der schönen deutschsprachigen anarcho-pazifistischen Szene einen schlechten Ruf zu verpassen. Uns wurde konkret vorgeworfen, mit unserer Politik das Vorurteil von „Molotov schmeißenden Anarchist*innen“ zu befeuern. Hier ein Zitat eines Linksunten.Indymedia Kommentars zur Veröffentlichung unseres Selbstverständnisses anlässlich unserer Gründung:
„Gerade diese selbst auferlegte Isolation (geschlossene Gruppen) vor der Gesellschaft gab den reaktionären Kräften die Möglichkeit die Definitionshoheit, was Anarchie bedeutet, zu gewinnen. Die Angst vor der Anarchie konnte so in die Gesellschaft transportiert werden, weil Anarchist*innen sich aus eigener Angst vor Repressionen nicht in die Öffentlichkeit getraut haben. Im Endeffekt habt Ihr auch nur wieder einen „Echo-Raum“ geschaffen, wo Personen einer elitären Gruppe nur das zu hören bekommen, was sie sowieso schon denken. Dieser Hinterzimmer-Anarchismus befeuert nur die eh schon vorhandenen Vorurteile gegen die Anarchie“.
Statt einer Solidarisierung findet eine Distanzierung statt, ohne wirklich zu wissen, was wir als Gruppe für politische Arbeit leisten und welche Themen wir behandeln wollen. Kommentare wie diese sind keine Form von solidarischer Kritik, sondern eine Kritik von Oben herab, meist ohne Inhalt und Argumentation. Nur um hier ein paar Fakten klar zu stellen: Die Gesellschaft, besonders die deutschsprachige, war und ist reaktionär. Dementsprechend besteht eine reaktionäre Definitionshoheit über den Anarchismus ohnehin. Und um ehrlich zu sein, wenn der heutige bürgerliche Mainstream uns nicht als eine feindliche Ideologie wahrnehmen würde, dann sollten wir uns echt Gedanken über unsere Politik machen.
Selbstverständlich wollen wir Menschen dazu bewegen, sich mit der Idee des Anarchismus zu beschäftigen und kritisch über dieses System zu reflektieren. Denn Anarchie heißt Leben: Es bedeutet den Versuch zu starten das Leben so gut wie möglich in die eigenen Hände zu nehmen, das Leben so zu leben, wie Mensch es möchte. Es bedeutet ein Leben fernab von Unterdrückung und Diskriminierung, fernab von Leistungszwang und Druck, fernab von materiellen Zwängen, traditionell konservativen Normen und Werten. Sondern ein befreites Leben, ein Leben in solidarischer Gemeinschaft, ein Leben wo Mensch seine Bedürfnisse nach seinen eigenen Maßstäben befriedigen kann, ein Leben wo Mensch sich frei entfalten kann.
Doch zugleich dürfen wir nicht vergessen, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt und deswegen Anarchismus auch kämpfen bedeutet: Für die befreite Gesellschaft und gegen alle reaktionären Tendenzen!
Es gibt gute Gründe, dass Menschen sich aus Angst vor Repression schützen wollen und deswegen nicht offen agieren. Diese Gründe abzuwerten sind ein sehr heftiger Angriff auf die Möglichkeit als eigenständiges Individuum Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Wir fragen uns bei solchen Kommentaren kopfschüttelnd, ob diese Personen ein so anderes Grundverständnis des Anarchismus haben als wir: Das eigene Leben in die Hände zu nehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. Herrschaftsfrei. Selbstbestimmt.
Anarchie bedeutet für uns auch Solidarität untereinander. Es gilt für eine solidarische befreite Gesellschaft einzustehen. Wir würden uns deswegen auch mehr Solidarität innerhalb der Szene wünschen. Es gibt viele verschiedene Ansätze, das Ziel einer befreiten Gesellschaft zu erreichen und dies muss auch verbunden sein mit solidarischer Kritik, Diskurs und gegenseitigem Respekt für die Arbeit anderer Mitstreiter*innen. Wenn dies von Anfang an nicht gewährleistet ist, so ist diese Bewegung von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Nicht jede Einzelperson und Gruppe kann das unglaublich breite Spektrum an politischer Arbeit leisten, sondern sich einzelne Themen davon nehmen um daran zu arbeiten. Zu sagen, dass es nur „einen richtigen politischen Weg und Ansatz“ gebe und alles andere falsch wäre, ist ein dogmatischer und totalitärer Gedanke und fernab vom allem, was wir als anarchistisch verstehen.“
Wir sehen jede emanzipatorische Gruppe als potentielle Verbündete an, auch pazifistisches Denken und Handeln sollen ihren Platz in der Bewegung haben. Doch auch Militanz ist Teil davon und sollte als solcher anerkannt werden und Solidarität erfahren.
Erneut, wir haben eigentlich kein Problem damit, wenn Gruppen oder Einzelpersonen pazifistisch handeln und denken, doch wir haben sehr wohl ein Problem damit, wenn diese sich dazu ermächtigen uns eine Lehrstunde in „gutem oder schlechtem“ Anarchismus zu geben.
Militanz und Pazifismus
Wie am Anfang beschrieben, distanziert sich die deutschsprachige anarchistische Bewegung des Öfteren von Militanz. Deshalb sehen wir uns jetzt dazu gezwungen, ein paar kritische Worte zu schreiben und unsere Sichtweise darzulegen.
Gewalt ist immer eine Form von Herrschaft und Macht. Deswegen bedeutet es für uns Anarchist*innen Gewalt als solche abzulehnen und zu versuchen sie zu vermeiden. Dies ist die Argumentation von Pazifist*innen und ja, gewissermaßen entspricht es der Wahrheit. Allerdings ist eine Formulierung wie diese auch ein sehr verkürzter Gedanke.
Denn Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Es findet eine Täter*innen-Opfer Umkehr durch eine solche Sichtweise statt, welche schlussendlich die Täter*innen schützt.
Gewalt erzeugt Gewalt? Ja, auch ein gängiges Argument von Pazifist*innen und ja, auch wir stimmen dem zu. Schließlich leben wir in einer Welt voller Gewalt und Herrschaftsmechanismen: Sexismus, Rassismus, LGBTQI*-Ablehnung, Ableismus, Klassismus etc. Viele von uns bekommen Diskriminierungen im Alltag zu spüren. Wir leben in einer Welt, in der eine freie Entfaltung unserer Persönlichkeit schwer möglich ist, in der wir an materielle Zwänge gebunden sind, in der wir den Großteil unserer Bedürfnisse nicht befriedigen können.
Dieses System tötet uns. Jeden Tag. Ob in Kriegen, an der Grenze, auf den kalten Straßen, in einsamen Zimmern ohne Perspektiven. Am Anfang war nicht der Pflasterstein, sondern die Wut und Trauer, die uns dazu bewegten, diesen zu werfen. Wir wollen ein Ende der Gewalt, deswegen sind wir, unter anderem, Anarchist*innen.
Insofern wollen wir natürlich Friede, Freude und vegane Pfannkuchen Torte. Die Abwesenheit von Gewalt ist dementsprechend selbstverständlich etwas Erstrebenswertes. Doch besteht diese Welt aus Gewalt und ist auf ihr aufgebaut, sei es strukturelle oder institutionalisierte, symbolische oder psychische, sei es Krieg oder wenn du aufgrund deiner persönlichen Merkmale verbal oder körperlich angegriffen wirst. Es geht darum, uns und unsere Mitstreiter*innen zu schützen und diejenigen, die diese Gewalt ausüben, auszubremsen. Ein Angriff auf Angreifer*innen ist somit Selbstschutz!
Pazifismus ist zumeist ein Privileg. Oft handeln diejenigen pazifistisch, welche innerhalb dieses Systems eine mit Privilegien ausgestattete Stellung besitzen. Für eine cis-weiße und nicht am Existenzminimum lebende Person ist es sehr viel einfacher Gewalt abzulehnen. Andere von uns haben nicht die Möglichkeit ein so einfaches Leben zu führen, weil wir jeden Tag Gewalt erleben. Als linke, nicht-weiße Person aus dem tiefsten Dorf aus Sachsen kommst du mit Pazifismus nicht weit, wenn die lokale Nazi-Gang dir auflauert und dich zusammenschlagen will. Oder wenn wir Frauen* von Mackern aggressiv bedrängt werden und wir Angst davor haben müssen, dass uns Selbstbestimmung über unseren eigenen Körper genommen wird. Genauso wenig, wenn autoritäre Staaten Genoss*innen ermorden und in Gefängnissen stecken.
„Wer sich aus Pazifismus heraus nicht gegen Naziangriffe verteidigen möchte, kann das tun, sollte sich aber nicht Menschen in den Weg stellen, die anderes vorhaben, die sich verteidigen. Sich öffentlichkeitswirksam von militanten Strategien zu distanzieren hilft der demokratischen Mehrheitsmeinung dabei, „Linksextremisten“ zu diffamieren und die Mitte der Gesellschaft gegen sie aufzuhetzen. Wird jedoch häufiger die Notwendigkeit von Radikalität und Militanz verständlich begründet, so könnte diese mehr Akzeptanz finden. Eine Linie ist aus anarchistischer Sicht jedoch dann überschritten, wenn Menschen, welche austauschbare Funktionär*innen des Systems sind, als Sündenböcke inszeniert und „eliminiert“ werden. Nicht nur finden sich hier Elemente der Entmenschlichung und des strukturellen Antisemitismus, „die da oben“, „eine kleine Gruppe von Kapitalisten und Politikern“ für das Übel der Welt verantwortlich zu machen ist schlicht verkürzt. Es bedarf hier einer ausführlicheren Analyse der herrschenden Verhältnisse. Entzieht den Wurzeln des Systems ihren Boden, anstatt einzelne Früchte zu entsorgen!“
Dass in Deutschland Militanz so verhasst ist, spricht von einer sehr privilegierten Stellung der „Deutschsprachigen Linken“. Im Gegensatz zu autoritärer regierten Staaten müssen wir nur in den seltensten Fällen Angst um unser Leben haben.
Schon Errico Malatesta hatte in seiner Schrift „Anarchismus und Gewalt“ kluge Worte zum Verhältnis zwischen beiden Thematiken gefunden:
„Von diesem Standpunkt aus ist die Gewalt kein Widerspruch zum Anarchismus und seinen Prinzipien, denn sie ist nicht das Resultat unser freien Wahl und Entschließung. Wir sind oftmals gezwungen, die Gewalt anzuwenden indem wir gezwungen werden, uns zu verteidigen, solche Rechte, welche durch brutale Gewalt unterdrückt werden, zu verteidigen. Nochmals sei es konstantiert: als Anarchisten haben wir nicht die Absicht, nicht den Wunsch, die Gewalt zu benutzen, wenn man uns nicht zwingt, sich oder andere gegen Unterdrückung zu verteidigen. Und nur dieses Recht der Selbstverteidigung fordern wir voll und ganz!„.
Militanz und Feminismus
Militanz und Gewalt wird sehr oft gleichgesetzt mit „Antifa-Mackertum“. Zum einen stimmen wir dem zu und zum anderen kritisieren wir diese Gleichsetzung.
Die linksradikale Szene hat ein Problem mit Mackertum. Wer kennt sie nicht, die „coolen Antifa-Dudes“, die stolz darüber erzählen wie viele Nazis sie letztes Wochenende auf dem Nachhauseweg geklatscht haben und mit ihrem dominanten und Raum einnehmenden Verhalten Sexismus auch innerhalb von linken Räumen und Gruppen reproduzieren. Damit wollen wir nicht zum Ausdruck bringen, dass es schlecht sei Nazis zu boxen, sondern dass ein Fetischisieren politischer Gewalt und ein Abfeiern dieser falsch ist. Gewalt ist manchmal notwendig, bleibt aber schlussendlich ein notwendiges Übel.
Dieser Sexismus und die cis-männlich dominierte linksradikale Szene waren Gründe, warum wir uns als Gruppe dazu entschlossen haben eine Genderquotierung einzuführen, um diesem Umstand entgegenzuwirken. Wir haben keine Lust noch eine weitere männlich dominierte Gruppe zu sein.
Gewalt, Stärke und Kraft sind männlich zugeschriebene Attribute und werden durch das Patriarchat reproduziert. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Militanz als Begriff mit Mackertum gleichgesetzt wird. Während Frauen* innerhalb der patriarchalen Denkweise als das gegenteilige dargestellt werden: Friedlich, Schwach und Kraftlos. Auf Grund dieser Sozialisation fällt es cis-männlichen Linksradikalen leichter, militant zu agieren und sich mit den damit assoziierten Attributen zu identifizieren. Währenddessen wird es uns als Frauen* schwerer gemacht, sich in dieser männlich dominierten Szene zu behaupten und militante Aktionsformen für sich zu nutzen. Das Patriarchat, dass Frauen* die Militanz abspricht, macht auch vor linken Räumen nicht Halt.
Aus diesen Gründen sind wir der Meinung, dass nicht die Militanz an sich bekämpft, kritisiert und sich davon distanziert werden muss, sondern Mackertum und patriarchale Verhältnisse, sowohl gesamtgesellschaftlich, als auch explizit in linken Räumen. Wir als Gruppe möchten keine patriarchalen Denkweisen reproduzieren, sondern klar sagen, dass auch Frauen* militant und stark sein können, ohne dass es ihrer Genderpositionierung widerspricht.
Oder um es mit einem Zitat aus dem bundesweiten Fantifa Treffen `93 abzuschließen:
„Unser Frauenalltag per se ist kämpferisch, wir sind nicht gegen Militanz, sofern sie zielgerichtet und für uns sinnvoll ist. Wir unterstützen gemeinsames, miteinander abgestimmtes, konsequentes Bekämpfen von FaschistInnen wo immer es möglich ist. Wir wehren uns aber gegen Militanz als Selbstzweck, die andere unnötig gefährdet und mehr dem männlichen Profilierungsgehabe als dem politischen Kampf dient“ .
Wir bleiben dabei: „Make Anarcha-Feminism A Threat Again!“
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