Da anarchistische Positionen das Ziel einer herrschaftsfreien Welt verfolgen, empfinden wir es als unbedingt nötig sich mit Unterdrückungskategorien auseinanderzusetzen und antisemitische Ressentiments und Denkstrukturen die in der Mehrheitsgesellschaft, aber auch in anarchistischen Theorien und Gruppen vorhanden sind, zu thematisieren.
Ein Beispiel für einen antisemitischen, anarchistischen Theoretiker ist Pierre-Joseph Proudhon welcher forderte Juden und Jüdinnen den Zugang zu Arbeit zu verwehren, jüdischen Brauchtum zu unterbinden und Synagogen zu schließen(1). In seinen Carnets schrieb er unteranderem: „Der Jude ist der Feind des Menschengeschlechts. Es ist nötig diese Rasse nach Asien zu verschicken, oder zu vernichten.“(2).
Auch Bakunin spart in seinen Texten nicht mit antisemitischen Aussagen. Er stellt Juden als Ausbeuter und Parasiten dar, welche dem Sozialismus nicht würdig seien(3).
Kroptokin hingegen war einer der ersten Anarchisten, die sich kritisch mit Antisemitismus auseinandersetzten.
Er stand in engem Kontakt mit der jüdisch-anarchistischen ArbeiterInnenbewegung und sprach sich gegen einen Assimilierungsprozess von Juden und Jüdinnen und für den Erhalt jiddischer Sprache aus(4).
Antisemitismus „beschreibt die Ablehnung und Diskriminierung von Menschen aufgrund dessen, dass sie Juden sind und ihnen damit bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden“(5). Wir verstehen Antisemitismus nicht einfach als antijüdischen Rassismus, sondern als umfassende Weltanschauung, mit deren Hilfe die Komplexität der Welt zu erklären versucht wird. Diese Komplexität wird fälschlicher Weise mit einer grenzenlosen „Macht der Juden“ erklärt. Juden und Jüdinnen wird eine Weltverschwörer*innenrolle zugeschrieben und werden in diesem Weltbild für alles Schlechte der Welt verantwortlich gemacht. Juden und Jüdinnen wurde schon im vormodernen Judenhass eine besondere Nähe zu Geld und Kapital unterstellt. Dieses Stereotyp existierte zur Zeit des vormodernen Judenhasses in Gestalt des „Wucherjuden“ und blieb in einer Kopplung von Juden und Jüdinnen mit der Zirkulationssphäre bestehen.
Als im 19. Jahrhundert die Industrialisierung begann und damit verbunden eine starke Prekarisierung von Arbeit stattfand, entwickelte sich zunehmend eine Emanzipation der Juden und Jüdinnen(6). Viele Juden und Jüdinnen profitierten von den Umbrüchen dieser Zeit und konnten diese für sich nutzen. Mit der zunehmenden Kapitalisierung der Wirtschaft und Gesellschaft wurde Juden und Jüdinnen ein mächtiger Einfluss auf alles Abstrakte von Finanzinstitutionen und internationaler Wirtschaft bis hin zu Regierungen und verflochtenen internationalen Beziehungen zugeschrieben. Das Bild des „weltbeherrschenden Juden“ entstand. In Verflechtung mit den gefälschten „Protokollen der Waisen von Zion“ und Behauptungen eine Rothschilddynastie würde die Welt regieren, wird „der Jude“ für alles Moderne und Abstrakte verantwortlich gemacht (7).
Um eine umfassende Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse vornehmen zu können, müssen materielle Faktoren, Umstände der Produktion sowie Reproduktion benannt und analysiert werden. Eine Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem ist hier unabdingbar. Doch nicht jede Kritik am Kapitalismus ist emanzipatorisch.
Bei regressiver Kapitalismuskritik handelt es sich um eine Kritik am Kapitalismus auf der Basis eines völlig inkorrekten Kapitalismusverständnis, welche auch mit Ergänzungen nicht zu einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik entwickelt werden kann(8).
Regressive Kapitalismuskritik beinhaltet die Imaginierung eines Unterschieds zwischen „dem guten und dem bösen“ Kapital oder der fleißigen Arbeit und dem Finanzkapital. Hier wird eine Trennung herbeigeredet, die nicht existiert, denn Kapital kann nur in Verbindung mit Arbeit bestehen, da beide Teil eines kapitalistischen Wirtschaftssystems sind(9).
Kapital und Arbeit bilden ein auf einander bezogenes Verhältnis, was bedeutet, dass das eine ohne das jeweils andere nicht bestehen kann(10).
Die Zirkulationssphäre wird in regressiver Kapitalismuskritik jedoch als einzig problematisch für den Kapitalismus verantwortliches Moment verklärt und im Gegensatz zur Arbeit als etwa Negatives dargestellt(11).
Die Behauptung es gäbe einen „Positiv-“ und einen „Negativ-Kapitalismus“ und wir müssten uns nur von den negativen Teilen des Kapitalismus trennen ist grundfalsch (12).
Um den negativen Aspekten des Kapitalismus zu entgehen, ist eine komplett andere Produktionsform nötig (13). Regressive Kapitalismuskritik ist zwangsläufig verbunden mit einer antisemitischen Weltanschauung und beinhaltet Vernichtungsgedanken statt emanzipatorischen Gehalt.
Diese regressive Kritik am Kapitalismus taucht in verschiedenen Bereichen immer wieder auf. Auf globalisierungskritischen Demonstrationen, in Zeitungsartikeln, Gewerkschaften und eben auch in anarchistischen Kreisen. Diesen Antisemitismus und die nicht emanzipatorische Kritik am Kapitalismus in anarchistischen Kontexten wollen wir thematisieren und uns kritisch mit der Verbindung von Anarchismus und Antisemitismus auseinandersetzen.
Eine befreite Gesellschaft ist mit einem falschen Verständnis von Kapitalismuskritik, verbunden mit einem Vernichtungsgedanken gegen die (fälschlicherweise) als Schuldigen erklärten, nicht möglich und diese widerspricht unserem Verständnis von Anarchismus ganz klar.
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1 Portman, Werner (2013): Proudhon und das Judentum, ein kompliziertes Verhältnis. 41ff. In: Jürgen Mümken/Siegbert Wolf (2013): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“ – Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel. Band 1: Von Proudhon bis zur Staatsgründung. S.39-79.
2 Proudhon,(1961): Carnets de P.J.Proudhon 2, S.337, Paris und Portman, Werner: Proudhon und das Judentum, ein kompliziertes Verhältnis. S.44.
3 Graur, Mina (2013): Anarchismus und Zionismus:Die Debatte über den jüdischen Nationalismus. S.164. In: In: Jürgen Mümken/Siegbert Wolf (2013): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“ – Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel. S.163.
4 Jürgen Mümken/Siegbert Wolf. S.11
5 Heyder,Aribert/Iser, Julia/Schmidt, Peter (2005):Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbilder zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus. S.144-156. S.145.
6 Feuerherdt, Alex (2011): Der Antisemitismus der „Occupy“-Bewegung – Das Volk gegen ein Prozent. In: Jungle World. Nr.48. 1.Dezember. http://jungle-world.com/artikel/ 2011/48/44440.html [Zugriffsdatum: 11.04.2017]
7 Haury, Thomas (2002): Antisemitismus von links – kommunistischer Ideologie. Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. S.30f. 1. Auflage. Hamburger Edition HIS Verlaggesellschaft mbH.
8 Salzborn, Samuel (2014): Antisemitismus: Geschichte, Theorie, Empirie. S.117. Nomos Verlag Gesellschaft. Baden-Baden.
9 (ebda)
10 (ebda)
11 Lingk, Alexander (2013): Der Aufstand der 99% – Kapitalismuskritik in ökonomischen Krisenzeiten am Beispiel der Occupy-Bewegung. S.59. Wissenschaftlicher Verlag Berlin.
12 ebd. S.60
13 Marx, Karl (2013): Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. 40.Auflage. S.90. Dietz Verlag. Berlin.